ee) Mangelnde Ausgestaltung durch §§ 31 ff. SGB II
Die § 31a i. V. m. § 30, § 31b SGB II
und § 32 SGB II [§ 32 ggf.
streichen!] verstoßen bereits durch die Kopplung der Leistungsgewährung an ein bestimmtes Verhalten des Betroffenen gegen das Grundrecht
aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.
Die Sanktionsnormen sind nämlich ganz offenkundig nicht zum Zwecke und unter
Berücksichtigung einer Bedarfsberechnung
eingefügt worden. Bezüglich der nach einer Sanktion verbleibenden
Leistung liegt keine Bedarfsbestimmung vor: Die Leistung ist in keiner
Weise gesetzlich berechnet oder
auch nur in Bedarfspositionen festgelegt. Dies stellt einen mangelhaften gesetzgeberischen
Ausgestaltungsakt dar.
Normen, die eine pauschale prozentuale Kürzung pro
(jede) Pflichtverletzung vorsehen, berechnen
keinen tatsächlichen Bedarf,
sondern ignorieren ihn. Bei
einer Leistungskürzung nach § 31a SGB II/§ 32 SGB II [§ 32 ggf. streichen!] besteht keinerlei Zusammenhang zwischen
der restlichen Leistung und dem
gegenwärtigen Bedarf der
Hilfebedürftigen. Der Sanktionsmechanismus
ist vielmehr unabhängig von real existierenden Bedarfen. Der Gesetzgeber hat die
volle Erbringung der durch ihn berechneten Leistung stattdessen an Mitwirkungspflichten, d. h. an ein bestimmtes Verhalten der Betroffenen, gekoppelt:
vgl. Gesetzesbegründung,
Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110, 112, Vorbemerkung zu den §§ 31 bis
32.
Teile der
Literatur sehen darin gleichwohl „Grundrechtsausgestaltungen,
die sich nicht den Anforderungen an die Rechtfertigung eines
Grundrechtseingriffs stellen müssen.“ [Hervorh. d. Verf.],
so Burkiczak, Zwischenruf zu Nešković/Erdem,
Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 6/12, S. 324 ff.,
Nr.1 b.
Andere
weisen hingegen auf den Eingriffscharakter hin:
Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion
über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (326 f.).
Sanktionen
können jedenfalls „nur zulässig sein, wenn die Leistungsgewährung an bestimmte,
über die bloße aktuelle Hilfebedürftigkeit hinausgehende Voraussetzungen
geknüpft werden darf.“ [Hervorh. d. Verf.],
Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584.
Doch dies ist mit dem Bundesverfassungsgericht klar zu
verneinen. Einzig und allein der Bedarf ist der Maßstab, nach dem der
Gesetzgeber den Leistungsanspruch zu berechnen hat. Der Gesetzgeber darf den
Umfang des Existenzminimums nicht nach Gutdünken bestimmen, sondern hat nach
verfassungsgerichtlich überprüfbaren Kriterien eine nachvollziehbare
Bedarfsberechnung vorzunehmen.
Der Leistungsanspruch
„hängt von den
gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des
Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen
und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010,
Abs.-Nr. 138.
Das
Bundesverfassungsgericht hat bereits in einer früheren Entscheidung in Bezug
auf die Versagung von Sozialhilfe aufgrund mangelnder Angaben des
Leistungsberechtigte zu seiner Notlage i. S. d. § 60 SGB I ausgeführt:
„Diese
Pflicht [des Staates zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, d.
Verf.] besteht unabhängig von den
Gründen der Hilfebedürftigkeit (vgl. BVerfGE 35, 202 <235>).
Hieraus folgt, dass bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf
Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, soweit es um die Beurteilung der
Hilfebedürftigkeit der Antragsteller geht, nur auf die gegenwärtige Lage abgestellt werden darf.“
BVerfG vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05,
Rn. 28.
In einem
auf sein Grundsatzurteil vom 9.2.2010 folgenden Beschluss betreffend die
Einkommensanrechnung, führt das Bundesverfassungsgericht aus, die Verfassung
gebiete nicht die Gewährung von
„bedarfsunabhängigen,
voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten
Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang bei der
Gewährung von Sozialleistungen, die
an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, sonstiges Einkommen
des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird“ (vgl. BVerfGE
100, 195 <205>).“ [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvR 2556/09 vom
7.7.2010, Rn. 13.
Damit lässt es gerade nicht die Kopplung des
Leistungsanspruchs an irgendeine beliebige
Voraussetzung zu. Im Gegenteil geht das Bundesverfassungsgericht
weiterhin von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem tatsächlichen
Bedarf des Betroffenen und der Leistungserbringung aus: Voraussetzung für die Leistungsgewährung ist die gegenwärtige Bedürftigkeit. Der
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfasst nicht die Anknüpfung an willkürliche Tatbestandsvoraussetzungen,
sondern lediglich „die Beurteilung
der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des
notwendigen Bedarfs“ [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Durch eine Leistungskürzung wird im Ergebnis ein verminderter Bedarf zuerkannt.
Doch durch das die Sanktionen auslösende Verhalten ist der Hilfebedürftige
nicht mit einem Mal weniger
bedürftig. Die Mittel, die er für die physischen Existenz und zu
einem Mindestmaß an sozialer Teilhabe benötigt, bleiben die gleichen, die er vor
dem vorgeworfenen Verhalten
benötigt hat.
Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche
Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326
ff. (327).
Wird eine
mangelhafte und/oder mangelnde Berechnung des existenznotwendigen Bedarfs
vorgenommen, ist das Grundrecht in einer (unzulässigen) Weise bestimmt worden,
welche selbst gegen das Grundrecht verstößt:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom
9.2.2010, Abs.-Nr. 144.
Das
Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der mangelhaften Berechnung der alten
Hartz-IV-Regelleistungen ausgeführt:
„Schätzungen ‚ins Blaue hinein` laufen
[...] einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen
deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des
Art. 20 Abs. 1 GG.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010,
Abs.-Nr. 171.
Wenn bereits Gesetzesvorschriften, die auf einer nicht nachvollziehbaren Berechnung
(aber immerhin auf einer Bedarfsschätzung)
beruhen, gegen das Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums verstoßen, muss dies erst recht für Normen gelten, die die
Höhe der Leistung überhaupt nicht an den Bedarf, sondern an ein Verhalten des Bedürftigen koppeln.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von
Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, SGb
2012, 136 ff. (139).
Unabhängig
davon, ob der Gesetzgeber die Leistungsgrenzen unter Umständen noch enger
ziehen oder Leistungen für soziale Teilhabe komplett aberkennen dürfte,
so offenbar Burkiczak -
BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f. und Davilla, SGb 2010, 557, 558 f.,
könnten negative Abweichungen vom
(einfach-)gesetzlich zuerkannten Leistungsanspruch überhaupt nur dann
verfassungsgemäß sein, wenn sie ihrerseits den Umfang des Grundrechts in
zulässiger Weise ausgestalten. Dies ist
der Fall, wenn sie selbst ein bedarfsberechnendes
Parlamentsgesetz darstellen.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von
Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (139).
Es ist
deswegen auch nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich, für verschiedene
Personengruppen unterschiedliche
Leistungsumfänge zur Deckung des Existenzminimums zu definieren:
„Werden
hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde
gelegt, muss dies allerdings sachlich
zu rechtfertigen sein. (...) Eine Differenzierung ist nur möglich,
sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von
dem anderer Bedürftiger signifikant
abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten
Verfahren anhand des tatsächlichen
Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“ [Hervorh. d.
Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 97, 99.
Diese Voraussetzung ist bei der Gruppe der von
Leistungskürzungen Betroffenen nicht
erfüllt. Aus diesem Grund ist eine gleiche Ausgestaltung des Leistungsanspruchs
geboten.
Schon gar nicht erfolgt eine abweichende Ausgestaltung des
Grundrechts durch eine im Einzelfall vorgenommene Sachleistungsvergabe nach §
31a Abs. 3 SGB II.
Zum einen stellt die „Berechnung zur Höhe ergänzender
Sachleistungen“ in den Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit, die durch
Addition der Bedarfe für „Ernährung und Körperpflege“ zu einer
„Gesamtgutscheinhöhe“ von 176 Euro (ca.
46 % des Regelbedarfs) gelangt,
vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3
und Anlage 4,
nicht einmal irgendeine (schon gar keine
nachvollziehbare) Bedarfsberechnung durch Parlamentsgesetz dar.
Zum anderen darf es augenscheinlich nicht der Verwaltung obliegen, im einzelnen
Sanktionsfall den konkreten Umfang der Leistungen und damit den Inhalt des
Grundrechts auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach
mehr oder weniger freiem Ermessen einzuschätzen.
Der Umfang des menschenwürdigen Existenzminimums wird im
Falle einer durch einen Hilfebedürftigen begangenen „Pflichtverletzung“ demnach
nicht hinreichend bestimmt bzw. ohne
sachlichen, bedarfsabhängigen Grund niedriger beziffert. Dabei ist es
die aus dem Grundrecht entspringende Pflicht des Gesetzgebers, den
Leistungsanspruch durch ein Parlamentsgesetz
„in einem transparenten und
sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen“,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 3.
"Zum anderen darf es augenscheinlich nicht der Verwaltung obliegen, im einzelnen Sanktionsfall den konkreten Umfang der Leistungen und damit den Inhalt des Grundrechts auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach mehr oder weniger freiem Ermessen einzuschätzen."
AntwortenLöschen(Vorletzter Absatz, so weit ich die Absätze richtig gezählt habe)
Das Wort "augenscheinlich" kann ich mir in diesem Satz nicht so recht erklären. Muß das raus?