Sonntag, 21. Juli 2013

Antrag: Anhang: 1. Grundsätzliche Kritik an Leistungskürzungen nach dem SGB II


1. Grundsätzliche Kritik an Leistungskürzungen nach dem SGB II

Sanktionen werden von Juristen, Sozialarbeitern und Politikern verschiedener Parteien seit Jahren zum Teil aufs Heftigste kritisiert. Sie werden in erster Linie für politisch verfehlt bzw. nicht sachdienlich gehalten:

Vgl. nur Götz/Ludwig-Mayerhofer/Schreyer, Sanktionen im SGB II - Unter dem Existenzminimum, IAB-Kurzbericht 10/2010; Bündnis für ein Sanktionsmoratorium: http://www.sanktionsmoratorium.de/pdfs/aufruf_lang_web.pdf; Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Reform der Sanktionen im SGB II, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 11.6.2013, DV 26/12 AF III; Ames, Anne, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 12 ff.; Grießmeier, Nicolas, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 40 ff.; Niedersachsen kündigt Bundesratsinitiative zum Sanktionsstopp an: http://www.paz-online.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/ Niedersachsen-fordert-Stopp-von-Hartz-IV-Strafen; Antrag der LINKEN auf Abschaffung der Sanktionen: dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf; Position der GRÜNEN: http://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2013/april/hartz-iv-sanktionen_ ID_4388231.html. (Links abgerufen am 12.7.2013)

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur auf die verfassungsrechtliche Problematik von Sanktionen im SGB II hingewiesen.

So bemerkte Rixen als Reaktion auf die BVerfG-Entscheidung:

„Trotz der vergleichsweise knapp bemessenen Zeit empfiehlt es sich für den Gesetzgeber zu prüfen, ob die Absenkungsregeln des § 31 SGB II dem Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums standhalten.“ [Hervorh. d. Verf.]

Rixen, in: SGb 2010, 240-245 (245); vgl. derselbe in: Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51).

Er stellte die Frage: „Darf die Sanktion so weit gehen, dass das Existenzminimum nicht mehr gesichert ist?“ [...] Wenn aber die Leistungen durch eine Sanktion nach § 31 SGB II ‚auf Null` abgesenkt werden, dann ist evident nichts mehr da, dann ist das Existenzminimum nicht beziehungsweise kaum noch gesichert; sieht man einmal davon ab, dass der Leistungsträger nach Ermessen noch bestimmte Leistungen erbringen kann, etwa bei den unter 25-Jährigen für Unterkunft und Heizung.“

Rixen, Stephan, in: Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51 f.)

Angermeier kommentierte das Urteil des Bundesozialgerichts vom 9.11.2010 vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit folgenden Worten:

„Die Aussage des BSG, es bedürfe in einem Fall der Absenkung bzw. Minderung des Arbeitslosengeld II wie hier für vier Monate um 20 v. H. bzw. 30 v. H. der maßgebenden Regelleistung keiner weiteren Prüfung eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Normen, wenn der Grundsicherungsträger zeitgerecht ergänzende Sachleistungen in angemessenem Umfang angeboten habe, die von den Hilfebedürftigen auch in Anspruch genommen worden seien, wird dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) womöglich nicht gerecht. [...] Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit kommen nicht umhin, sich ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) bewusst zu werden und gewissenhaft zu prüfen, ob in einem bei ihnen anhängigen Verfahren, bei dem die §§ 31 ff. SGB II eine Rolle spielen, nicht eine Vorlage an das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) angezeigt ist.“ [Hervorh. d. Verf.]

Angermeier, Anmerkung zu Urteil des BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 27/10 R, in: jurisPR-SozR 6/2012 Anm. 2.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur sind diverse Versuche unternommen worden, die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen im Detail zu belegen.

Vgl. z. B. Däubler: Absenkung und Entzug des ALG II – ein Lehrstück zur Verfassungsferne des Gesetzgebers, in: info also, 2/2005, S. 51 ff.; RA Mundt, Hartz IV – Rechtsprobleme des SGB II und seiner Anwendung, Expertise im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE, 2008, S. 25 ff.

Grießmeier forderte bereits 2009 aufgrund eines Verstoßes gegen „Art. 20 in Verbindung mit Art. 1 Soziokulturelles Existenzminimum“ eine entsprechende Verfassungsbeschwerde:

Vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, S. 62 ff.

Nešković/Erdem formulieren grundsätzliche verfassungsrechtliche Kritik am bestehenden System der Sanktionen nach den §§ 31 ff. SGB II. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010, halten sie jede Kürzung der Regelsätze durch die Verwaltung für einen unzulässigen Eingriff in das (durch den Gesetzgeber mit dem RBEG konkretisierte) Grundrecht auf Zusicherung des menschenwürdigen Existenzminimums:

Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: SGb 2012, S. 134 ff.; dieselben, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.

1 Kommentar:

  1. Es dürfte grundsätzlich Verfassungswidrigkeit gegeben sein wenn bei der Ausführung eines Gesetzes ein anderes Gesetz verletzt wird.
    Beispiel hierzu: zumutbarkeit einer Arbeit sanktionsbewehrt bei Ablehnung verstößt gegen die
    Vertragsfreiheit. Die Vertragsfreiheit ist laut
    BMAS (Bundesministerium für Arbeit und soziales)
    ein so hohes Gut, das der Staat darin nicht eingreifen dürfe. Es läge an den Vertrags-parteien (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) über die
    Punkte eines Arbeitsvertrages frei zu verhandeln.
    Daraus abgeleitet kann der Arbeitsuchende demnach nicht gezwungen werden einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, der ihn benachteiligt. Daraus dürfte sich ergeben das
    Sozialbehörden keinen sanktionsbewehrten Druck
    auf zustandekommen eines Arbeitsvertrages ausüben dürfen

    AntwortenLöschen