1.
Grundsätzliche Kritik an Leistungskürzungen nach dem SGB II
Sanktionen werden von Juristen, Sozialarbeitern und Politikern
verschiedener Parteien seit Jahren
zum Teil aufs Heftigste kritisiert.
Sie werden in erster Linie für politisch verfehlt
bzw. nicht sachdienlich gehalten:
Vgl. nur Götz/Ludwig-Mayerhofer/Schreyer, Sanktionen im
SGB II - Unter dem Existenzminimum, IAB-Kurzbericht 10/2010; Bündnis für ein
Sanktionsmoratorium: http://www.sanktionsmoratorium.de/pdfs/aufruf_lang_web.pdf; Empfehlungen des Deutschen
Vereins zur Reform der Sanktionen im SGB II, Deutscher Verein für öffentliche
und private Fürsorge, 11.6.2013, DV 26/12 AF III; Ames, Anne, Ursachen und
Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 12 ff.; Grießmeier,
Nicolas, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 40 ff.; Niedersachsen kündigt
Bundesratsinitiative zum Sanktionsstopp an: http://www.paz-online.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/ Niedersachsen-fordert-Stopp-von-Hartz-IV-Strafen; Antrag der LINKEN auf
Abschaffung der Sanktionen: dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf;
Position der GRÜNEN: http://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2013/april/hartz-iv-sanktionen_
ID_4388231.html. (Links abgerufen am
12.7.2013)
Nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 wurde in der
rechtswissenschaftlichen Literatur
auf die verfassungsrechtliche
Problematik von Sanktionen im SGB II hingewiesen.
So bemerkte Rixen
als Reaktion auf die BVerfG-Entscheidung:
„Trotz der vergleichsweise knapp bemessenen Zeit empfiehlt es sich für
den Gesetzgeber zu prüfen, ob
die Absenkungsregeln des § 31 SGB II dem
Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums standhalten.“
[Hervorh. d. Verf.]
Rixen, in: SGb 2010, 240-245 (245); vgl. derselbe in:
Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch
Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und
Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51).
Er stellte
die Frage: „Darf die Sanktion so weit
gehen, dass das Existenzminimum
nicht mehr gesichert ist?“ [...] Wenn aber die Leistungen durch eine
Sanktion nach § 31 SGB II ‚auf Null` abgesenkt werden, dann ist evident nichts mehr da, dann ist
das Existenzminimum nicht beziehungsweise kaum noch gesichert;
sieht man einmal davon ab, dass der Leistungsträger nach Ermessen noch
bestimmte Leistungen erbringen kann, etwa bei den unter 25-Jährigen für
Unterkunft und Heizung.“
Rixen, Stephan, in: Fordern oder Fördern? Rechtliche
Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011,
Wege aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff.
(51 f.)
Angermeier kommentierte das Urteil des Bundesozialgerichts vom
9.11.2010 vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
mit folgenden Worten:
„Die Aussage des BSG, es bedürfe in einem Fall der Absenkung bzw.
Minderung des Arbeitslosengeld II wie hier für vier Monate um 20 v. H. bzw. 30
v. H. der maßgebenden Regelleistung keiner weiteren Prüfung eines Verstoßes
gegen verfassungsrechtliche Normen, wenn der Grundsicherungsträger zeitgerecht
ergänzende Sachleistungen in angemessenem Umfang angeboten habe, die von den
Hilfebedürftigen auch in Anspruch genommen worden seien, wird dem Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) womöglich nicht gerecht. [...] Die
Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
kommen nicht umhin, sich ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG)
bewusst zu werden und gewissenhaft
zu prüfen, ob in einem bei ihnen anhängigen Verfahren, bei dem die
§§ 31 ff. SGB II eine Rolle spielen, nicht eine Vorlage an das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) angezeigt
ist.“ [Hervorh. d. Verf.]
Angermeier, Anmerkung zu Urteil des BSG vom 9.11.2010 - B
4 AS 27/10 R, in: jurisPR-SozR 6/2012 Anm. 2.
In der rechtswissenschaftlichen
Literatur sind diverse Versuche unternommen worden, die
Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen im Detail zu belegen.
Vgl. z. B. Däubler: Absenkung
und Entzug des ALG II – ein Lehrstück zur Verfassungsferne des Gesetzgebers,
in: info also, 2/2005, S. 51 ff.; RA Mundt, Hartz IV – Rechtsprobleme des SGB
II und seiner Anwendung, Expertise im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE,
2008, S. 25 ff.
Grießmeier
forderte bereits 2009 aufgrund eines Verstoßes gegen „Art. 20 in Verbindung mit
Art. 1 Soziokulturelles Existenzminimum“ eine entsprechende Verfassungsbeschwerde:
Vgl. Grießmeier, Der
disziplinierende Staat, S. 62 ff.
Nešković/Erdem
formulieren grundsätzliche verfassungsrechtliche
Kritik am bestehenden System der Sanktionen nach den §§ 31 ff. SGB II.
Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010,
halten sie jede Kürzung der
Regelsätze durch die Verwaltung für einen unzulässigen Eingriff in das (durch den Gesetzgeber mit dem RBEG
konkretisierte) Grundrecht auf
Zusicherung des menschenwürdigen Existenzminimums:
Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am
Bundesverfassungsgericht, in: SGb 2012, S. 134 ff.; dieselben, Für eine
verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von
Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.
Es dürfte grundsätzlich Verfassungswidrigkeit gegeben sein wenn bei der Ausführung eines Gesetzes ein anderes Gesetz verletzt wird.
AntwortenLöschenBeispiel hierzu: zumutbarkeit einer Arbeit sanktionsbewehrt bei Ablehnung verstößt gegen die
Vertragsfreiheit. Die Vertragsfreiheit ist laut
BMAS (Bundesministerium für Arbeit und soziales)
ein so hohes Gut, das der Staat darin nicht eingreifen dürfe. Es läge an den Vertrags-parteien (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) über die
Punkte eines Arbeitsvertrages frei zu verhandeln.
Daraus abgeleitet kann der Arbeitsuchende demnach nicht gezwungen werden einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, der ihn benachteiligt. Daraus dürfte sich ergeben das
Sozialbehörden keinen sanktionsbewehrten Druck
auf zustandekommen eines Arbeitsvertrages ausüben dürfen