aa) Konkretisierung des Grundrechtsumfangs durch den
Gesetzgeber
Das Grundrecht bedarf der
„Konkretisierung und stetigen
Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an den
jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden
Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum
zu.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010,
Leitsatz 2.
Hierbei ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht
den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und das Anpassungserfordernis
lediglich auf den konkreten Umfang des Leistungsanspruchs bezieht,
wohingegen es den individuellen
Anspruch darauf für „unmittelbar“ verfassungsrechtlich erklärt. Der
Anspruch ist damit durch den Gesetzgeber von vornherein bloß noch der Höhe
nach zu konkretisieren, wohingegen er „dem Grunde nach von der
Verfassung vorgegeben“ ist [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010,
Abs.-Nr. 135, 138.
Bei der Ausgestaltung des (verfassungsunmittelbaren)
Leistungsanspruchs ist der Gesetzgeber nicht völlig frei. Er hat strenge
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen, die sowohl Form als auch Inhalt der Ausgestaltung
betreffen:
„Die Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits
unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht
durch ein subjektives Recht
des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Die verfassungsrechtliche
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das
einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält.“ [Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010,
Abs.-Nr. 136.
„Der gesetzliche
Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten
existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers
deckt.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1
BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.
„Zur Konkretisierung des
Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten
und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht,
zu bemessen […].“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010,
Abs.-Nr. 139.
Entscheidend ist demnach, dass der Gesetzgeber „seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet“:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 93.
Der gesetzliche Leistungsanspruch muss sich seiner Höhe nach also an den tatsächlich bestehenden
existenznotwendigen Bedarfen orientieren.
Daneben macht das Bundesverfassungsgericht weitere Vorgaben
zum Umfang des
Leistungsanspruchs. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums umfasst danach nicht nur die physische Existenz des Menschen,
sondern auch ein Mindestmaß an soziokultureller Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135.
Diese Entscheidung trägt der aktiven Schutzverpflichtung des Staates Rechnung, die den
Einzelnen ausgrenzenden Reaktionen der Gesellschaft entgegenzuwirken hat. Das
folgt bereits aus der konstituierenden
Bedeutung der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Hieran ist der
Gesetzgeber gebunden, wenn er seinem Ausgestaltungsauftrag bei der Bestimmung
des menschenwürdigen Existenzminimums nachkommt. Er muss demnach neben dem physischen Überleben auch die soziale
Teilhabe der Hilfebedürftigen sichern:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137;
Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Auflage, 2010, Art. 1, Rn. 41.
Um es ganz deutlich zu machen, am besten Randziffer 135 wörtlich zitieren:
AntwortenLöschenEr (der verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums) gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (vgl. BVerfGE 120, 125 <155 f.>), als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (vgl. BVerfGE 80, 367 <374>; 109, 279 <319>; auch BVerwGE 87, 212 <214>).
"...denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen" heißt mit anderen Worten: auch die "sozialen Bezüge" sind untrenn- und unverfügbarer Teil der Existenz des Menschen.
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